Vitamin B3 (Niacin/Niacinamid)
Physiologische Bedeutung
Niacin (Nicotinsäure) und Niacinamid (Nico-tinamid) haben qualitativ und quantitativ die gleiche physiologische Bedeutung, da Nicotinsäure nach der Resorption amidiert und als Nicotinamid gespeichert wird. Gewebe mit hoher Stoffwechselrate wie Herz, Leber, Immunzellen, Nieren sowie reproduktive Organe sind besonders reich an Niacin. Nicotinamid ist Bestandteil von NADVNADH und NADP+/NADPH (Nicotinamid-Adenin-Di-nukleotid), die als wasserstoffübertragen-de Coenzyme (Dehydrogenasen/Oxidore-duktasen) eine zentrale Rolle im Intermediärstoffwechsel einnehmen. Sie sind an zahlreichen Redoxreaktionen beim Auf- und Abbau von Kohlenhydraten, Proteinen und Fettsäuren beteiligt. Vitamin B3 ist u. a. für die Blutzuckerregulierung (Niacin ist zusammen mit Chrom an der Bildung des GTF beteiligt), die Entgiftung von Xenobiotika (Cytochrom P 450-System) und für das antioxidative Schutzsystem (GSH-, Liponamid-u. Thioredoxin-Reduktase) von großer Bedeutung. Darüber hinaus ist Niacin an der DNA-Replikation und -Reparatur, der Calci-umhömöostase und an der Myelinsynthese der Nervenscheiden im zentralen und peripheren Nervensystem beteiligt. Niacin und Niacinamid werden pharmakotherapeutisch unterschiedlich eingesetzt.
Niacinbedarf und -resorption
Nicotinsäure und Nicotinamid werden hauptsächlich über einen Natrium-abhängigen Carriermechanismus im oberen Dünndarm resorbiert. Hohe pharmakologische Dosen werden vermehrt über passive Diffusion aufgenommen.
Da Niacin endogen aus der Aminosäure L-Tryptophan synthetisiert werden kann, wird der Niacinbedarf auch in Niacinäquivalenten angegeben: 1 Niacinäquivalent = 1 mg Niacin = 60 mg Tryptophan. Vitamin B6 und Vitamin B2 sind an der endogenen Umwandlung von L-Tryptophan in Niacin beteiligt, so dass ein Mangel an diesen Vitaminen den Niacinstatus ebenfalls beeinträchtigt. Der tatsächliche Bedarf ist daher nur schwer festzulegen. Die D-A-CH-Referenzwerte empfehlen für Erwachsene eine tägliche Niacin-zuftihr von 13 bis 17 mg (siehe Tab.).
Alkoholismus:
Alkohol vermindert die Resorption und steigert den Abbau von L-Tryptophan.
Arzneimittel:
Azathioprin, Diazepam, L-Dopa, INH, Mercaptopurin, Paracetamol, Phenytoin, Phenobarbital, Benserazid, Carbidopa (Decarboxylasehemmer beeinträchtigen die Niacinbiosynthese durch Hemmung der Kynureninhydroxylase (1), ein Vitamin B6-abhängiges Enzym des Tryptophanstoffwechsels), NRTI.
Erhöhter Bedarf:
Schwangerschaft, Stillzeit, Wachstum, Leistungssport
Einseitige Ernährung:
Mais und Hirse (-» Pellagra). Leucinüberschuß verschlechtert die Resorption von Tryptophan (Maismehl enthält pro 100 g: 1,08 g Leucin und nur 0,05 g Tryptophan). Eine erhöhte Leucin-aufnahme (> 10 g Leucin/Tag) fuhrt relativ schnell über eine Reduzierung der NAD-Biosynthese zu den typischen Krankheitssymptomen der Pellagra.
Erkrankungen:
AIDS/HIV, CED, Malabsorption, Hartnup-Syndrom, Karzinoid, Mangel an L-Tryptophan, Vitamin B6 und B2. Hämodialyse.
Abnahme der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit, Gewichtsverlust, Erschöpfung, Schwindel Mund und Schleimhäute: Zungenbrennen, Himbeerzunge (Glossitis), Mundwinkel-rhagaden, Entzündungen des Ösophagus und GIT
Haut:
Gerötet, rissig und schuppig, gesteigerte Lichtempfindlichkeit, Dermatitis an lichtexponierten Stellen Gastrointestinale
Störungen:
Durchfall, Erbrechen und Appetitverlust.
Degenerative Veränderungen des ZNS: Halluzinationen, Psychosen, Verwirrtheit, Reizbarkeit, Müdigkeit, Reduzierte renale Exkretion von N-l-Me-thyl-Nicotinamid und N-l-Methyl-2-Pyri-don-3-Carboxamid
Pellagra:
Dermatitis, Demenz und Diarrhoe
Pellagra auch 3 D Krankheit (Dermatitis, Diarrhoe und Demenz)
Pellagra ist die typische Vitamin B3-Mangel-erkrankung. Zu den charakteristischen Symptomen gehören die rauhe Haut („Pellagra"), die vor allem an Körperstellen auftritt, die dem Sonnenlicht exponiert werden (Gesicht, Nacken, Handrücken). Die Pellagra wurde erstmalig im Jahre 1735 in Spanien beobachtet und zunächst für eine spezielle Form der Lepra gehalten. Sie trat früher vor allem in Ländern auf, in denen Mais (enthält wenig Tryptophan und viel Leucin) als Hauptnahrungsmittel verwendet wurde. Die Therapie erfolgt mit 300 bis 500 mg Niacinamid pro Tag. Das Hartnup-Syndrom zeigt ebenfalls die Symptome der Pellagra (pellagraähnliche Lichtdermatosen, Oligophrenie, Ataxie). Diese autosomal-rezessiv vererbte Krankheit beruht auf einer Störung im Tryptophanstoff-wechsel infolge verminderte gastrointestina-ler Resorption und renaler Rückresorption.
Hyperlipidämien und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Nicotinsäure gehörte vor der Einführung der CSE-Hemmer zu den Arzneimitteln der ersten Wahl in der Therapie von Dyslipopro-teinämien. Im Jahre 1955 wurden die lipid-senkenden Eigenschaften der Nicotinsäure zum ersten Mal von Dr. Abram Hoffer und Professor Dr. Rudolf Altschul beschrieben. Der intensiven Forschungstätigkeit Dr. Abram Hoffers ist es vor allem zu verdanken, dass die cholesterinsenkende Wirkung der Nicotinsäure überhaupt entdeckt wurde und das Vitamin auch heute noch zu den wirksamstem Pharmaka in der Behandlung von Hyperlipidämien (II a, II b, IV, V) zählt.
Nicotinsäure senkt dosisabhängig (1,5 bis 3 g Niacin/Tag, p.o.) das stark atherogen wirkende Lipoprotein (a) (um 35%), das Gesamt- und LDL-Cholesterin (um 10-20%) sowie den Triglyceridspiegel (um 30-70%). Die fribrinolytische Aktiviät des Blutes wird gesteigert, das HDL-Cholesterin erhöht (um 20-35%) und der Blutdruck leicht gesenkt. Die lipidsenkende Wirkung beruht überwiegend auf einer Hemmung der Lipoly-se durch Blockade der Trigylceridlipase sowie einer Reduktion der hepatischen Synthese von Cholesterin, VLDL, Apolipoprotein B und Triglyceriden.
In Langzeitbeobachtungen an Patienten mit Hypercholesterinämie und KHK wurde unter der Therapie mit Niacin im Vergleich zu Placebo eine signifikante Reduktion der Mortalität festgestellt. In einer Plazebo-kontrollierten, randomisierten Doppelblindstudie an 160 Patienten mit KHK, niedrigem HDL (31 mg/dl) und mäßig erhöhtem LDL (130 mg/dl), reduzierte die kombinierte Gabe von Niacin (2-4g/Tag) und Simvastatin (10-20 mg/Tag) über einen Zeitraum von 3 Jahren die Zahl der klinischen Ereignisse im Vergleich zu Placebo um 80%. Gegenüber einer Monotherapie mit Simvastatin wurde die Zahl der Herzinfarkte sogar halbiert. Die Kombination von Simvastatin (senkt LDL) und Niacin (erhöht HDL) führte bei den meisten Patienten zu einer Stabilisierung, bei vielen sogar zu einer Abnahme der atherosklero-tischen Plaques. Die adjuvante Gabe von An-tioxidanzien zeigte keinen positiven Effekt.
In der ADMIT-Studie, einer randomisierten, Placebo-kontrollierten Studie an 468 Patienten mit peripheren arterieller Verschlußkrankheit, davon 125 Diabetiker, senkte Niacin (bis zu 3000 mg/Tag, p.o.) bei Diabetikern das LDL-C (um 9%), die Triglyceride (um 28 %) und erhöhte das HDL-C (um 29 %) ohne gleichzeitig die Glucosetoleranz (HbAlc, BZ-Spiegel) zu beeinträchtigen. Nach Meinung der Autoren ist Niacin ein sicheres Therapeutikum bei Diabetikern in der Therapie von Hyperlipidämien.
Wegen der häufigen Nebenwirkungen („Flush": Hautrötung, Gefäßerweiterung) wird empfohlen die Therapie mit Nicotinsäure einschleichend zu beginnen: Jeweils zwei Wochen lang 3 X täglich zu oder nach den Mahlzeiten mit viel Flüssigkeit 50 mg, 100 mg, 200 mg, 250 mg, 500 mg, dann 1000 mg Nicotinsäure (= 3000 mg/Tag). Die Einnahme von ASS (100-300mg) oder eines Antihistaminikums (30 min. vorher), kann den Flush reduzieren. Da nach Absetzen mit einem Rebound (Flush) gerechnet werden muss, sollte auf eine regelmäßige Niacin-zufuhr geachtet werden. In einer Untersuchung ist unter der Titration mit Niacin von 100 mg auf 1000 mg pro Tag eine moderater Anstieg der Homocyst(e)in-Plasmaspiegel beobachtet worden. Es wird daher empfohlen neben Niacin auch Folsäure, Vitamin B6 und B12 zu ergänzen!
Inositolhexanicotinat ist eine Ester aus einem Molekül Inositol und sechs Molekülen Nicotinsäure. Nicotinsäure wird aus Inositolhexanicotinat nach hydrolytischer Spaltung des Esters langsam im Plasma und den Geweben freigesetzt. Durch die protahierte Freisetzung und langsamere Anflutung der Nicotinsäure im Plasma sind bei Inositolhexanicotinat die typischen Nebenwirkungen wie Haut- und Gesichtsrötung weniger stark ausgeprägt. Inositolhexanicotinat wird in Dosierungen von 2,4 g pro Tag (z. B. 3 X 800 mg/d) in der Therapie von Hyperlipidämien eingesetzt. Eine unter Behandlung mit reiner Nicotinsäure festgestellte Beeinflussung der Plasmaaktivität von Transaminasen, alkalischer Phosphatase, der Glucosetoleranz sowie der Blutzucker- und Harnsäurespiegel wird in der Regel nicht beobachtet. Generell sollten Nicotinsäure-Präparate wegen der besseren Verträglichkeit immer zu den Mahlzeiten eingenommen werden.
Psychische Störungen (Schizophrenien)
Der Einsatz hochdosierter Gaben von Niacin/Niacinamid und Vitamin C von Hoffer und Osmond in der Therapie schizophrener Erkrankungen gehört zu den Anfängen in der Geschichte der orthomolekularen Medizin.
Osteoarthritis, degenerative Arthritis
Die tägliche Gabe von 3000 mg (6 X 500 mg) Niacinamid über einen Zeitraum von 3 Monaten führte in einer Pilotstudie an 72 Patienten mit Osteoarthritis zu einer deutlichen Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit, zur Reduktion des Arzneimittelbedarfs (NSAR) und zur Schmerzlinderung. Die Verbesserungen treten meistens erst nach 1 bis 3 Monaten Therapiedauer ein. Niacinamid ist eines der ältesten und bekanntesten Vitamine zur Behandlung der Osteoarthritis. So wird der therapeutische Einsatz von Niacinamid bereits in den vierziger Jahren von Dr. William Kaufman beschrieben. Niacinamid soll sich vor allem zur Behandlung einer degenerativen Arthritis der Kniegelenke eignen.
Krebs
Niacin soll die Wirksamkeit einer Chemotherapie durch Verstärkung des zytostatischen Effektes auf den Tumor und Verringerung der Toxizität für das gesunde Gewebe verbessern. Im Tierversuch erhöhte Niacin die Strahlenempfindlichkeit von Tumoren und schützte den Herzmuskel vor der toxischen Wirkung von Adriamycin. In der adjuvanten Krebstherapie werden in der Regel 200 mg bis 1500 mg Niacin/Niacinamid pro Tag gegeben.
Diabetes mellitus
Bei der Entstehung eines Typ-I-Diabetes wird eine Autoimmunreaktion diskutiert, in deren Folge die insulinproduzierenden Betazellen zerstört werden. Einige Studien belegen die präventive Wirkung von Nicotin-amid-Gaben auf die Entstehung und Progression eines Typ-I-Diabetes (NIDDM). In einer Studie an 16 Patienten mit Neumanifestation eines Diabetes bekamen 7 Patienten täglich 3000 mg Nicotinamid und 9 erhielten Plazebo. Nach 6 Monaten waren noch 5 Patienten aus der Nicotinamid-Gruppe und 2 aus der Placebo-Gruppe insulinunabhängig, hatten normale Blutzucker- und HbAlc-Werte. Nach 12 Monaten waren noch 3 Patienten aus der Nicotinamid-Gruppe, aber keiner aus der Placebo-Gruppe in Remission (12). Nicotinamid erhöht die Insulinsensitivität, hemmt die durch Makrophagen induzierte Schädigung der Betazellen (Interleukin-1, Stickoxide, Sauerstoffradikale) und fordert deren Regeneration. Für einen erfolgreichen Einsatz muss die Nicotinamid-Gabe (25 bis 30 mg/ kg KG) rechtzeitig bei noch ausreichend hoher Inselzellrestfunktion erfolgen.
Polymorphe Lichtdermatosen, Sonnenallergie
In einer Pilotstudie an 42 Patienten mit polymorpher Lichtdermatose führte die tägliche Gabe von 3000 mg Nicotinamid (3 X 1000 mg/Tag, p.o.) über einen Zeitraum von 2 Wochen zu einer signifikanten Verbesserung der Kranheitssymptomatik. In der Vorbeugung von Sonnenallergien werden allgemein 600 mg Nicotinamid pro Tag empfohlen. Mit der Einnahme sollte spätestens 3-5 Tage vor intensiver Sonneneinwirkung begonnen werden.
Weitere Anwendungsgebiete
AIDS (Niacin-Depletierung), Hypoglykämie, Mundwinkelrhagaden, Neurodermitis, Durchblutungsstörungen.
Nicotinsäure kann zu gastrointestinalen Beschwerden und einem sog. Flush führen, der sich durch Hautrötung, Kribbeln, Urtikaria und Blutdruckabfall (gefäßdilatierende Wirkung) äußert. Wird Nicotinsäure auf leeren Magen eingenommen sind diese Nebenwirkungen stärker ausgeprägt. Deshalb sollte einschleichend dosiert werden und die Einnahme nach den Mahlzeiten erfolgen.
Langandauernde hochdosierte Anwendung (> 1,5 g/Tag) kann in seltenen Fällen zu Nebenwirkungen führen wie Magenulzera, Leberfunktionsstörungen, verminderter Glucosetoleranz und bei Patienten mit Hyperurikämie zur Erhöhung der Harnsäurespiegel (Interaktion mit dem Harnsäure-Carrier). Daher sollte bei Diabetes mellitus, Hyperurikämie, Ulkusanamnese und Leberfunktionsstörungen die Hochdosistherapie mit Nicotinsäure sorgfaltig überwacht werden!
Nicotinsäure kann die blutzuckersenkende Wirkung oraler Antidiabetika reduzieren, den blutdrucksenkenden Effekt von Antihypertensiva steigern und die Wirkung von Antikoagulantien erhöhen. In hohen Dosen kann Nicotinamid die Carbamazepin-Clearance senken und die Primidon-Ausscheidungsrate reduzieren.
Bei akuter Herz-Kreislauf-Insuffizienz, peptischen Ulzera und schweren Leberfunktionsstörungen darf Nicotinsäure nicht angewendet werden.
Hinweis: Unabhängig davon, welche Niacin-form (Niacin, Niacinamid, Inositiolhexanicotinat) therapeutisch verwendet wird, sollten bei einer Hochdosistherapie (1,5 bis 6 g/Tag) regelmäßig die Cholesterin- und Leberwerte (ALT) überprüft werden. Nicotinsäure sollte nicht in Retardform (Ausnahme: Inositolnicotinat) eingesetzt werden, da über erhöhte Lebertoxizität berichtet wird. Nicotinsäure ist in diesem Sinne kein Fall für die Selbstmedikation, sondern gehört unter regelmäßige ärztliche Kontrolle.