Vitamin B12 (Cobalamine/Cyanocobalamin/Methylcobalamin/Hydroxocobalamin)
Physiologische Bedeutung
Cobalamine enthalten im Zentrum ihres aus vier Pyrrolringen aufgebauten Ringsystems ein Cobaltatom. In der Leber werden die mit der Nahrung zugefuhrten Cobalamine in ihre coenzymatisch aktiven Wirkformen 5-Desoxyadenosylcobalamin und Methylco-balamin umgewandelt. Diese sind an der Biosynthese von Purin- und Pyrimidin-Basen, der DNA-Synthese (Ribonukleotid-Reduktasen), der Erythropoese, der Synthese von Methionin aus Homocystein (Methionin-Synthase), am Abbau ungeradzahliger Fettsäuren (Methylmalonyl-CoA-Mutase), an der Regeneration der N-Methyltetrahydrofolsäure (sekundärer Folsäuremangel bei perniziöser Anämie) und der Bildung von Myelinscheiden im Nervensystem beteiligt. Vitamin B12 hat wie auch die Folsäure einen großen Einfluß auf alle Zellteilungs- und Wachstumsprozesse. Beide Vitamine ergänzen sich in vielen biologischen Funktionen (z. B. Entgiftung von Homocystein).
Vitamin-B12-Bedarf und -Resorption
Die D-A-CH-Referenzwerte empfehlen für Erwachsene eine tägliche Zufuhr von 3 [lg, für Schwangere und Stillende 3,5 (Xg bzw. 4 lg Vitamin B12.
Die Resorption erfolgt bei physiologischer Dosierung über einen aktiven Resorptionsmechanismus. Das an Protein gebundene Cobalamin der Nahrung wird im Magen durch Pepsin und Salzsäure freigesetzt und an ein von den Speicheldrüsen gebildetes R-Protein im Magensaft gebunden. Im Duodenum wird Cobalamin bei neutralem pH unter dem Ein-fluss von Pankreastrypsin freigesetzt und bindet an Intrinsic-Faktor (IF). Der IF-Cobala-min-Komplex wandert in das Ileum und wird dort mit Hilfe spezifischer Rezeptoren der Mucosazellen resorbiert. Bei unphysiologisch hohen Dosierungen wird Vitamin B12 auch durch passive Diffusion ohne IF im gesamten Dünndarm resorbiert.
Die sublinguale Vitamin B12-Applikation bietet möglicherweise eine sinnvolle Alternative zur oralen oder parenteralen Supplementierung, insbesondere bei Magen-Darm-Erkrankungen. In einer Studie an Patienten mit Vitamin B|2-Mangel (Plasmaspiegel < 200pg/ml; im Mittel 127,9 pg/ml) führte die sublinguale Applikation von 2 X täglich 1 mg Cobalamin nach 7 bis 12 Tagen zu einem signifikanten Anstieg der Cobalamin-Plasma-spiegel auf durchschnittlich 515,7 pg/ml (Normalwert: 200-1000 pg/ml).
Alkoholismus (Schädigung der Magen-Darmschleimhaut)
Alter: Bis zu 50% der Menschen ab dem 60. Lebensjahr weisen eine beginnende chronisch-atrophische Gastritis mit verminderter Säure-, Pepsin- und IF-Produk-tion auf. An der Entwicklung ist häufig auch eine Helicobacter pylori (Hp)-Infek-tion beteiligt.
AIDS/HIV: Krankheits- und medikationsbedingte Resorptionsstörungen (Achlor-hydrie).
Arzneimittel: Antazida, Colchicin, Colestyramin, Neomycin, H2-Blocker (Ranitidin, Cimetidin), Protonenpumpenhemmer, Metformin, N20-Narkose, NRTI, Proteasehemmer, orale Kontrazeptiva, Paraaminosalicylsäure. Metformin kann die Vitamin B12-Resorption beeinträchtigen und einen Abfall der Cobalamin-Plasmakonzentrationen hervorrufen. Daneben ist auch ein Anstieg der Homocystein-Plasmaspiegel beobachtet worden. Neurologische Störungen bei Typ-2-Diabetikern könnten mit einem Metformin-induzierten Vitamin B12-Mangel assoziiert sein. Unter der Langzeitmedikation mit Omeprazol kann sich ein Vitamin B12-Mangel mit megaloblastärer Anämie entwickeln. Bei einer N20-Narkose kann es zu einer irreversiblen Oxidation des Cobalt-Anteils im Cobalaminmolekül und damit zu einer Hemmung der Methionin-Synthetase-Aktvität, reduzierten SAM-Bildung und schweren neurologischen Schäden kommen.
Ernährung: vegan, besonders Schwangere und Kinder von vegetarisch lebenden Müttern.
Erhöhter Bedarf Schwangerschaft, Stillzeit, Alter (Resorptionsstörungen)
Malabsorption: Amyloidose, IF-Mangel, chronische-atrophische Gastritis, Gastrek-tomie, Fischbandwurmbefall, Imerslund Syndrom, M. Crohn, bakterieller Befall des Ileums (Hp), Sprue, Hashimoto-Thy-reoiditis, Malabsorption infolge Tumor, Zollinger-Ellison-Syndrom.
Niereninsuffizienz, Hämodialyse
Lebererkrankungen: Hauptspeicherorgan für Vitamin B12 ist die Leber (bis zu 60%).
Pankreasinsuffizienz: Bei Fehlen der Pankreasproteasen wird Vitamin B12 aus der Bindung mit R-Protein nur unzureichend freigesetzt. Störungen der Vitamin B12-Resorption können durch die Gabe von Pankreasproteasen ausgeglichen werden.
Rauchen: NOx im Zigarettenrauch kann zu einem Vitamin B12-Mangel führen.
Der hohe Vitamin B12-Körperbestand von 2 bis 5 mg (Tagesbedarf: 3 p.g) ist die Ursache dafür, daß Vitamin-B12-abhängige Krankheitssymptome erst nach Jahren beobachtet werden.
Demenz, Gedächtnis-, Konzentrationsstörungen, Halluzinationen, Müdigkeit, Muskelschwäche, Psychosen, Reizbarkeit, geringe Stresstoleranz und Leistungsfähigkeit.
Gastrointestinale Symptome: Appetitlosigkeit, Diarrhöe, Gewichtsverlust
(Poly)Neuropathien: Gefühllosigkeit, Parästhesien (Hände, Füße), Ausfall des Achillessehnenreflexes. Methylcobala-min-Mangel führt durch Hemmung der Methionin-Synthase-Reaktion zu einer Kumulation von S-Adenosyl-Homocys-tein, einem Abfall von SAM und damit zu einer Hypomethylierung von ZNS-Proteinen (—> Störungen des ZNS).
Serum: Abfall der Vitamin B12- (< 300 pg/ml), Anstieg der Gastrin-, Homocystein- und Methylmalonsäure- (> 376nmol/l) Konzentrationen.
Blockade des Folsäurestoffwechsels infolge mangelnder Bereitstellung von aktiver Tetrahydrofolsäure durch das Enzym Ho-mocystein-Methyltransferase.
Augen: Optikusatrophie Gestörte Erythropoese, Leuko- und Thrombozytopenie
Perniziöse (makrozytäre) Anämie: Blässe, Durchfall, Ikterus, Hunter-Glossitis, Kurzatmigkeit, Gewichtsverlust, Stomatitis, neurologische Ausfallerscheinungen infolge degenerativer Entmarkung des Rückenmarks (MCV > 98 fl). Funikuläre Myeolose: Herdförmige Entmarkung der Hinterstrang- und Pyramidenbahnen mit ataktischen und spastischen Störungen aufgrund unzureichender Bildung von Myelinscheiden und Demyelinisierung.
AIDS
Infolge Malabsorption, die u. a. durch Virostatika bedingt ist (Zerstörung der Darmflora), weisen HIV-Patienten häufig einen deutlichen Vitamin B12-Mangel auf. Neuro-und Myopathien gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen antiretroviraler Arzneimittel. In einer Untersuchung an 310 HIV-positiven Patienten über einen Zeitraum von neun Jahren wurde festgestellt, dass bei den Patienten mit den niedrigsten Vitamin B12-Serumspiegeln (12-Spiegeln. Erniedrigte Vitamin B12-Spiegel verdoppelten nahezu das Risiko der Krankheitsprogression und könnten damit ein wichtiger Marker für die AIDS-Entwicklung darstellen. Aufgrund der gestörten Magen-Darm-Flora sollte bei AIDS-Patienten die Vitamin B12-Substitution (1 mg i.m., alle 1-3 Monate) parenteral erfolgen.
Asthma bronchiale
Vitamin B12 soll bei Asthmatikern eine provozierte Bronchokonstriktion vermindern können und die Asthmasymptomatik günstig beeinflussen. Bei Asthma werden 1000 pg Vitamin B12 (i.m.) pro Woche empfohlen.
Diabetes mellitus
Vitamin B12 soll zusammen mit den Vitaminen B, und B6 die Energieversorgung und den gestörten Stoffwechsel der Nerven verbessern und die Regeneration der Myelinscheiden fordern. In der Prophylaxe und Therapie diabetischer Neuropathien sollte Vitamin B12 (50 bis 100 pg/Tag) in Kombination mit anderen B-Vitaminen eingesetzt werden. Beim Typ-II-Diabetiker, der jahrelang mit Metformin behandelt wird, besteht die Möglichkeit, dass die neurologischen Anzeichen eines Vitamin B12-Mangels (z. B. Sensibilitätsstörungen im Bereich der unteren Extremitäten) durch die klassischen Symptome einer diabetischen Neuropathie verdeckt werden.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen und erhöhte Homocysteinspiegel
Ein Mangel an Vitamin B6, Bl2 und Folsäure kann erhöhte Homocystein-Blutspiegel verursachen. In der Vorbeugung und Therapie kardiovaskulären Erkrankungen werden täglich 50 bis 100 pg Vitamin B12 zusammen mit Folsäure und Vitamin B6 empfohlen.
Perniziöse Anämie, funikuläre Myelose
Die perniziöse Anämie ist die klassische Vitamin Bl2-Mangelerkrankung. Betroffen sind vor allem das Nervensystem, die Myelopoese und der Gastrointestinaltrakt. Ursache ist eine chronisch atrophische Gastritis, die zu einer verminderten Produktion von Intrinsic-Faktor führt. Bei einem Großteil der Patienten sind Autoantikörper gegen den Intrinsic-Faktor im Serum nachweisbar. Therapie: Initial werden 1000 pg Hydroxocobalamin (2-A x/Wo., i. m.) verabreicht bis zur Normalisierung der häma-tologischen u./o. neurologischen Symptome. Danach erfolgt die wöchentliche Gabe von 500-1000 pg (über 1-3 Monate, i.m.). Bei B12-Resorptionsstörungen (Schilling-Test) müssen lebenslang 100-500 pg/Monat (i.m.) gegeben werden!
Morbus Crohn
Bei Resektion des Ileums (> 100 cm) oder bevorzugtem Befall des terminalem Ileums muss Vitamin B12 parenteral (1000 pg alle 3-4 Monate) substituiert werden.
Multiple Sklerose (MS)
In einigen Untersuchungen an Patienten mit Multiple Sklerose wurden deutlich erniedrigte Vitamin B12- und gleichzeitig erhöhte Ho-mocyst(e)in-Serumspiegel gefunden. Es wird angenommen, dass der chronisch demyelini-sierende Prozess zum einen den Vitamin B12-Bedarf erhöht und zum anderen ein Vitamin B12-Mangel die Patienten für eine MS-Attacke empfanglicher macht. Obwohl bei einem Mangel an Vitamin B12 und auch bei Multiple Sklerose das Myelin geschädigt wird, konnte allerdings bisher kein kausaler Zusammenhang festgestellt werden. Über eine Verbesserung der MS-Symptoma-tik wird zum Teil nach parenteraler Anwendung von Vitamin B12 berichtet. In der begleitenden Therapie der Multiplen Sklerose werden 1 mg (i.m.) täglich über 7 Tage, dann 1 mg (i.m.) Vitamin B12 wöchentlich empfohlen.
Neuropsychiatrische Erkrankungen
Neuropsychiatrische Erkrankungen können ein Zeichen für einen Vitamin B12-Mangel sein. Besonders alte Menschen weisen häufig durch Resorptionsstörungen (Achylie, Intrinsic-Faktor-Mangel) und Mangelernährung einen deutlichen Vitamin B12-Mangel auf. Bei depressiven Verstimmungen, altersbedingten Gedächtnisstörungen und Demenz vom Alzheimer Typ sollte allgemein auf eine ausreichende Versorgung mit Vitamin B12 (100 bis 500 pg pro Tag) geachtet werden (10).
Weitere Anwendungsgebiete
Anorexia nervosa, Nervenerkrankungen (z. B. Trigeminusneuralgien), Hashimoto-Thyreoi-ditis, Stress, Tinnitus, Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungssport, nach schweren Erkrankungen und Operationen.
Hinweis: Bei Erkrankungen des Dünndarms, Morbus Crohn, Mangel an IF, totaler oder partieller Gastroektomie, Pankreasin-suffizienz und atrophischer Gastritis mit Achylie sollte Vitamin B12 parenteral (i.m., z.B. 1 mg/Monat) oder sublingual (siehe oben) appliziert werden.
In Einzelfallen können bei parenteraler Applikation (v.a. intravenös) ekzematöse, urti-karielle Arzneimittelreaktionen bis hin zu anaphylaktischen Reaktionen auftreten. Vitamin B12 kann akneogen wirken.