Vitamin B1 (Thiamin)
Physiologische Bedeutung des Vitamin B1
Vitamin B1wird im menschlichen Organismus unter ATP-Verbrauch in seine coenzymatisch aktive Form Thiaminpyrophosphat (TPP) phosphoryliert. Als Coenzym der Pyruvat- und a-Ketoglutarat-Dehydrogenase (PDH, KGDH) übernimmt es eine Schlüsselfunktion im mitochondrialen Energiestoffwechsel. Im Rahmen der oxidativen Decarboxylierung von oc-Ketosäuren ist Thiamin an der Einschleusung von Kohlenhydratmetaboliten (Pyruvat) und Ketoanaloga (Succinyl-CoA) des Amino- und Fettsäurestoffwechsels in den Citratzyklus und die Atmungskette beteiligt. Das Thiaminabhängige Enzym Transketolase (TK) reguliert im Pentosephosphatzyklus die Umwandlung von Glucose-6-Phosphat in Ribose-5-Phosphat, dem Substrat der Nukleotidbiosynthese. Bei Thiaminmangel ist die Aktivität der erythrozytären Transketolase signifikant verringert (ETKA-Test). Über den Pentosephosphat-Shunt und die Bereitstellung von reduzierten Glutathion ist Thiamin auch an der Regulierung des antioxidativen Status beteiligt. Da Nervenzellen ihren Energiebedarf überwiegend durch Oxidation von Kohlenhydraten decken, ist Thiamin für den neuronalen Energiestoffwechsel unentbehrlich. Thiamin ist an der Reizleitung und -Übertragung von Nervenimpulsen im zentralen und peripheren Nervensystem sowie am Neurotransmitterstoffwechsel des adrenergen, cholinergen und serotonergen Systems beteiligt. Die Biosynthese von Acetylcholin, Aspartat, GABA und Glutamat ist an den oxidativen Kohlenhydratstoffwechsel gebunden.
Der Thiaminbedarf ist abhängig vom Energieumsatz, da die thiaminabhängigen Enzyme am Energiestoffwechsel beteiligt sind. Kohlenhydrate und Alkohol erhöhen den Bedarf. Die D-A-CH-Referenzwerte empfehlen für Erwachsene eine tägliche Zufuhr von 1,0 bis 1,3 mg, für Schwangere und Stillende 1,2 bzw. 1,4 mg Thiamin. Der Thiamingehalt einiger Nahrungsmittel ist in Tab. 3.4 zusammengestellt.
Thiamin wird durch einen aktiven, trägerabhängigen Mechanismus und bei höheren Dosierungen zum Teil durch passive Diffusion im Dünndarm aufgenommen. In der Darmmukosa wird aus freiem Thiamin unter ATP-Verbrauch coenzymatisch wirksames Thiamindiphosphat (TDP) gebildet. Im Vergleich zu wasserlöslichen Thiaminverbindungen (Thiamin-HCl, -nitrat) werden die fettlöslichen Thiaminderivate(z.B. Benfotiamin), die sog. Alli-Thiamine (können sich unter physiologischen Bedingungen aus Allicin im Knoblauch und Thiamin bilden) wesentlich besser resorbiert und auch länger retiniert(l). Oral verabreichte, äquivalente Mengen an Benfotiamin führen im Vergleich zu Thiamin-HCl im Piasma zu einer 11,4fach und in den Erythrozyten zu einer 115fach höheren Bioverfügbarkeit. In der Therapie von Krankheiten, die mit einem ausgeprägten Thiaminmangel einhergehen (z.B. alkoholische und diabetische Polyneuropathie, kardiovaskuläre Beriberi) ist das Iipidlösliche Thiaminprodrug Benfotiamin, den wasserlöslichen Thiamin-Derivaten wegen der pharmakokinetischen Überlegenheit therapeutische vorzuziehen.
Alkoholismus:
Hoher Thiaminbedarf (Alkoholika haben hohen Kohlenhydratgehalt), Störung der energieabhängigen Resorption (Interaktion mit Na+/K+-ATPase) und des Thiaminstoffwechsels (Acetaldehyd) sowie erhöhte renale Thiaminexkretion.
Arzneimittel:
Antazida, Antiepileptika,Digoxin, Neuroleptika, 5-Fluorouracil (5-FU), Furosemid, orale Kontrazeptiva, NRTI (z. B. Zidovudin). 5-FU hemmt kompetitiv die Phosphorylierung von Thiamin zu TPP.
Erhöhter Bedarf:
Alter, Schwangerschaft. Stillzeit, Wachstum, Fieber, Leistungssport, schwere körperliche Arbeit (Thiaminverlust über den Schweiß), Streß.
Ernährung:
Kauen von Betelnüssen oder fermentierten Teeblättern, starker Tee- und Kaffeekonsum (Gerbstoffgehalt: Tanni ne=Anti-Thiamine). Hitze- und Oxidationsempfindlichkeit. Hohe Zufuhr einfacher Kohlenhydrate (Glucoseinfusion, Süßigkeiten, Weißmehl). Häufiger Verzehr von rohem Fisch (Thiaminasen!).
Erkrankungen:
Hämodialyse, HIV/AIDS, Hyperthyreose, KHK, Krebs (Tumorkachexie), Lebererkrankungen, Malaria, Thyreotoxikose.
Intensivmedizinische Behandlung:
langfristige parenterale Ernährung.
Malabsorption: Achylie, CED, Durchfall,
Geringe Thiaminspeicherkapazität (mit 25 bis 30 mg die niedrigste von allen Vitaminen der B-Gruppe) und kurze biologische Halbwertszeit (10 bis 20 Tage), Magnesiummangel: Magnesium ist Cofaktor der Transketolase.
Von einem Thiaminmangel sind in erster Linie glucoseabhängige Gewebe, wie das zentrale und periphere Nervensystem betroffen.
Allgemeine Symptome eines Thiaminmangels
Ursachen für einen Thiaminmangel
Appetitlosigkeit, GIT-Störungen, Gewichtsverlust, Müdigkeit, Muskelschwäche, -schmerzen, periphere Neuropathien, Neuralgien, Eingeschränkte geistige und körperliche Leistungsfähigkeit: Konzentrationsschwäche, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, Vergesslichkeit und Verwirrtheit.
Reduzierte Aktivität der Pyruvat-Dehy-drogenase (PDH), a-Ketoglutarat-Dehy-drogenase (KGDH) und erythrozytären Transketolase (ETKA-Test)
Blut: Anstieg der Lactat- und Pyruvatspie-gel
Hyperlactatämie/Lactatazidose (—* AIDS, Intensivmedizin, Herzinsuffizienz)
Diabetes mellitus: Diabetische Polyneuropathie u. Retinopathie
Symptome bei Alkoholikern
Alkoholtoxische Polyneuropathie (Störungen des Achillessehnenreflexes, gestörtes Vibrationsempfinden, Sensibilitätsstörungen, Burning feet Syndrome, neuralgische Schmerzen, motorische Störungen, Wadenkrämpfe), Wernicke-Encephalopathie (Ataxie, Augenmuskel-parese, Gedächtnisverlust, Nystagmus, Psychose, Verwirrtheit), Korsakow-Psy-chose (Verlust des Kurzzeitgedächtnisses)
Wernicke-Korsakow-Syndrom (Wer-nicke-Encephalopathie und Korsakow-Psychose)
Kardiomyopathie: LVEF 4, Tachykardien, Herzinsuffizienz, Ödeme
Symptome bei Beri-Beri
Trockene Form (Neuropathien): Periphere, degenerative Polyneuropathie, Muskelschwäche und -atrophie, Lähmungserscheinungen, Fußbrennen
Feuchte Form (Kardiomyopathie): Arryth-mien (Sinustachykardie), abnehmender peripherer Gefaßwiderstand, Dyspnoe, Herzinsuffizienz, -Vergrößerung, Lungenödem, periphere Ödeme, Lactatazidose.
Alkoholische Polyneuropathie (PNP)
20 bis 40% aller Alkoholiker leiden an einer alkoholtoxischen Polyneuropathie. Ein Mangel an B-Vitaminen, insbesondere Vitamin B [ und B6 spielt dabei eine ätiopathogenetische Schlüsselrolle. Zur Therapie der alkoholischen PNP wird Benfotiamin (100-300 mg/Tag) zusammen mit Folsäure, Vitamin B6 (100-300mg/Tag) und B12 sowie Magnesium (300-500 mg/Tag) empfohlen.
Beriberi
Beriberi ist das klassische Krankheitsbild der Vitamin B,-Avitaminose, die zuerst in Ländern wie Südostasien, in denen geschälter Reis als Hauptnahrungsmittel dient, beobachtet wurde. In den westlichen Industrieländern kann sie bei fehl- und mangelernährten Alkoholikern auftreten. Die Krankheit tritt in zwei Formen auf: Die trockene Form ist gekennzeichnet durch Muskelschwäche, Nervenentzündungen und psychischen Veränderungen. Bei der sogenannten feuchten Form überwiegen kardiovaskluäre und respiratorische Symtome (Dyspnoe, Kardiomyopathie, Ödeme). Bei Beriberi werden anfangs 100 bis 200 mg parenteral (i.m., i.v.) über mehrere Tage, anschließend 100 bis 300 mg Thiamin pro Tag oral verabreicht.
Diabetes mellitus und diabetische Polyneuropathie
In randomisierten und Plazebo-kontrollier-ten Doppelblindstudien an Patienten mit diabetischer Polyneuropathie (Typ-I- und Typ-Ii-Diabetes) verbesserte die orale Gabe des Thiamin-Prodrug Benfotiamin gegenüber Plazebo signifikant den Neuropathieschweregrad (Schmerzsymptomatik, Nervenleitgeschwindigkeit, Vibrationsempfinden). Tierversuche zeigen, dass Benfotiamin auch die Proteinglykosilierung (AGE-Bildung) hemmt. In der Therapie diabetischer Polyneuropathien werden täglich 150-300 mg Benfotiamin (p.o.) zusammen mit anderen neuroprotektiven Mikronährstoffen (z. B. ot-Liponsäure, B6, B12, Folsäure) empfohlen.
Epilepsie
Unter Dauertherapie mit Phenytoin und Phenobarbital werden reduzierte Thiaminplasmaspiegel beobachtet. Thiamin (50 mg/Tag, p.o.) kann die neuropsychologischen Funktionen bei Epileptikern, die langfristig mit Phenytoin behandelt werden, signifikant verbessern.
Immunschwäche
Krankheits- und medikationsbedingt ist der B-Vitaminbedarf bei Erkrankungen, die mit einem geschwächten Immunsystem assoziiert sind, insbesondere bei HIV-Infektionen, deutlich erhöht. Zur Stabilisierung der Immunfunktion wird eine Substitution von Thiamin in Form eines B-Komplexes von 50 bis 100 mg pro Tag empfohlen.
Lactatazidose (AIDS, Alkoholiker, Intensivmedizin, Herzinsuffizienz, TPN)
Lactat (Normalwerte im Plasma: 0,6-2,2 mmol/1), das Endprodukt der anaeroben Glycolyse wird durch Oxidation im Citrat- oder durch Gluconeogenese im Cori-Zyklus weiter verwertet. Thiamin ist Cofaktor des mitochondrialen Pyruvat-Dehydrogenase-Komplexes, der Pyruvat in den Citratzyklus und somit in den aeroben Stoffwechsel einschleust. Thiaminmangel reduziert den Pyru-vatverbrauch und erhöht den Lactatspiegel. Lactatazidosen können bei AIDS- und intensivmedizinischen betreuten Patienten, Alkoholikern, Herzinsuffizienz und totaler parenteraler Ernährung (TPN) auftreten.
Unter der Langzeitmedikation mit Nucleosidischen Reverse-Transkriptase-Inhibitoren, NRTI (AZT, ddC, 3TC, d4T) treten häufig Neuro- und Myopathien (Müdigkeit, Muskelschwäche, Wasting) auf. Dabei können ein NRTI-induzierter Mangel an B-Vitaminen sowie Störungen der mitochondrialen Atmungskette eine ätiologische Rolle spielen. NRTI hemmen die mitochondriale DNA-Polymerase vom Typ y, die in intakten Mitochondrien die Replikation der mitochondrialen DNA (mtDNA) katalysiert. Diese kodiert für wichtige Proteine in der Atmungskette. Bei Störungen des Citratzyklus und der mitochondrialen Atmungskette wird der Kohlenhydratstoffwechsel sowie der Lactat- und Fettsäureabbau beeinträchtigt. Mitochondriale Myopathien mit intrazellulärer Fettakkumulation, erhöhter Lactatproduktion und Kreatinphosphat-Depletion können auftreten. Auch die unter antiretroviraler Therapie beobachtete Hyperlipidämie und Lipodystrophie ist mit der toxischen Wirkung der NRTI auf die Mitochondrien assoziiert. HIV-Patienten mit NRTI-induzierter Lactatazidose konnten mit hochdosierter parenteraler Applikation von Thiamin erfolgreich behandelt werden.
Auch bei Intensivpatienten, die nach dreiwöchiger totaler parenteraler Ernährung (TPN) eine schwere Lactatazidose (> 22,8 mmol/1) entwickelt hatten, wurde der entgleiste Stoffwechsel mit Thiamin (2 x 400 mg, i.v.) normalisiert.
In vitro hemmen Digoxin und Furosemid die Thiaminaufnahme der Kardiozyten (10). Furosemid erhöht signifikant die renale Thia-minexkretion. Langzeitmedikation mit Furosemid führte bei Patienten mit Herzinsuffizienz zu Thiaminmangel und Beeinträchtigung der Herzfunktion (LVEF) (11). Ein 84jähriger Patient, der jahrelang aufgrund bestehender Herzinsuffizienz mit Diuretika behandelt worden war, wurde mit kardiovaskulärem Be-riberi-Syndrom (Dyspnoe, peripheren Ödemen, Herzdilatation) und Hyperlactatämie (11,4 mmol/1) in die Notfallaufnahme eingewiesen. 2 Stunden nach Applikation von 100 mg Thiamin (i.v.) fielen die Serumlactat-spiegel von 11,4 auf 5,7 mmol/1, nach 12 Stunden normalisierte sich der gestörte Stoffwechsel.
Nervosität, Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Stress
Die Gruppe der B-Vitamine wird auch als Anti-Stress-Vitamine bezeichnet. Bei Streß, eingeschränkter geistiger und körperlicher Leistungsfähigkeit empfiehlt sich die Substitution einer ausgewogenen Multivitaminmineralstoff-Kombination mit hochdosiertem Vitamin B-Komplex eubiopur Multivital.
Repellent (Insektenabwehr)
Thiamin wird bei hoher Dosierung (100 mg pro Tag) zum Teil über den Schweiß ausgeschieden und soll wegen seines Geruchs Insekten abwehren. Die Wirksamkeit ist allerdings sehr umstritten.
Wernicke-Korsakoff-Syndrom
Der hierbei auftretende Thiaminmangel ist fast immer die Folge einer Fehlernährung, die am häufigsten mit Alkoholismus verbunden ist. Die alkoholinduzierte Wernicke-En-zephalopathie geht mit Paralyse der Augenmuskulatur, mentalen Ausfallen und Koordinationsstörungen einher. Bereits bei Verdacht auf eine Wernicke-Enzephalopathie muss eine sofortige Substitution erfolgen, da die Erkrankung unbehandelt zu irreversiblen Schäden und zum Tod führt. Empfohlene Dosierung: 1 bis 2 x täglich 100-500 mg Thiamin parenteral (3-5 Tage lang), zusammen mit anderen B-Vitaminen, dann oral.
Weitere Anwendungsgebiete: Alkoholentwöhnung, Demenz vom Alzheimer-Typ, chron. entzündliche Darmerkrankungen, Depressionen, Herpes zoster, Lebererkrankungen, Leistungssport, Leuzinose, Malaria, Multiple Sklerose, Nervenentzündungen (Trigeminusneuralgien, Ischialgien).