Vitamin B6 (Pyridoxin/Pyridoxal/Pyridoxamin)

Physiologische Bedeutung

Vitamin B6 ist ein Sammelbegriff für die Wirkstoffe Pyridoxin, Pyridoxal und Pyrido­xamin sowie deren phosphorylierte Metabo­liten. Pyridoxal-5-Phosphat (PLP), die ei­gentliche Wirkform von Vitamin B6, ist als Coenzym von mehr als 100 enzymatischen Reaktionen für den gesamten Stoffwechsel von zentraler Bedeutung. Als Coenzym der Transaminasen, Decarboxylasen und Des-aminasen ist Vitamin B6 für den Aminosäure­stoffwechsel und die Biosynthese von Neu­rotransmittern (Serotonin, Dopamin, Norad­renalin) unentbehrlich. Daneben erfüllt es wichtige Aufgaben bei der Hämsynthese, im Homocystein-, Fett- und Kohlenhydrat­stoffwechsel sowie bei der Aufrechterhal­tung einer intakten Immunfunktion. Die Bio­synthese der Sphingolipide - wichtiger Be­standteile der Myelinscheiden - ist auf ei­ne ausreichende Versorgung mit Vitamin Bangewiesen. Darüber hinaus ist Pyridoxin an der endogenen Bildung von Kreatin und Taurin beteiligt. Zahlreiche Enzyme des Trypto-phanstoffwechsels sind Vitamin B6-abhän-gig. Bei einem Mangel ist daher die Um­wandlung von L-Tryptophan zu Serotonin und Niacin gestört. Durch verminderte Pico-linsäureproduktion wird zudem die Biover­fügbarkeit von Zink eingeschränkt.

Vitamin B6: Pyridoxinbedarf und -resorption

Die D-A-CH-Referenzwerte empfehlen für Erwachsene eine tägliche Zufuhr von 1,2 bis 1,6 mg Vitamin B6, für Schwange­re und Stillende 1,9 mg. Bei Schilddrüsen­überfunktion und eiweißreicher Ernährung ist der Bedarf erhöht. Aufgrund seiner zen­tralen Bedeutung für den Aminosäurestoff­wechsel benötigen Personen (z.B. Kraft­sportler), die sich sehr proteinreich ernähren, mehr Vitamin B6 (siehe Tab. 3.7).

Pyridoxin und Pyridoxal werden im Darm durch passive Diffusion resorbiert und im Anschluss in der Leber und im peripheren Gewebe phosphoryliert.

Ursachen für einen Vitamin Be-Mangel

Ein Vitamin B6-Mangel tritt meistens im Rahmen einer Unterversorgung mit anderen Vitaminen der B-Gruppe auf.

   Alkoholismus: Resorptions- und Verwer­tungsstörungen durch Schäden der Schleimhaut und der Leber. Acetaldehyd beschleunigt zusätzlich den Vitamin B6-Abbau.

   Arzneimittel: Antiepileptika, Cycloserin, Theophyllin, INH, L-Dopa, Dihydralazin,

Hydralazin, NRTI, D-Penicillamin, Mito-mycin C, orale Kontrazeptiva. Hydrazine bilden mit PLP Hydrazonkomplexe, die vermehrt renal ausgeschieden werden. Unter Einnahme östrogenhaltiger Kontra­zeptiva und konj. Östrogene kann nach Tryptophanbelastung die renale Xanthu-rensäure-Exkretion ansteigen (Hinweis auf Pyridoxinmangel) (1). Erhöhter Bedarf: Schwangerschaft, Still­zeit, Wachstum, Alter, Kraftsport. Ernährung: Proteinreiche Diät. Schlechte Bioverfugbarkeit aus pflanzlichen Le­bensmitteln (hoher Anteil glykosilierter Vitamin B6-Formen, die im Intermediär­stoffwechsel nicht metabolisiert werden). Hohe Hitzelabilität. Natürliche Antagoni­sten (Hydrazine, Hydroxylamine). Rauchen: Raucher weisen zum Teil signi­fikant reduzierte PLP-Spiegel auf. Erkrankungen: AIDS/HIV-Infektion, Asthma, Diabetes mellitus, Hämodialyse, Krebs, Malabsorption. Mangel an Vitamin B2 und Magnesium: Riboflavin ist als Coenzym (FMN) an der Umwandlung von Pyridoxin in PLP betei­ligt (—> Pyridoxamin-phosphat-Oxidase). Pyrrolurie (Kryptopyrrol > 15 pg/dl): Stoffwechselstörung mit hoher Pyrrol-Bil-dung. Pyrrol komplexiert Vitamin B6 und Zink, die vermehrt renal ausgeschieden werden.

Strahlenschäden/-therapie (gesteigerter Eiweißabbau).

Depressionen, Konzentrationsschwäche, Reizbarkeit (gestörte Decarboxylierung von 5-Hydroxytryptophan zu Serotonin). Neurologische Störungen: Periphere Neu­ropathien (Demyelinisierung der Nerven, infolge gestörter Sphingomyelinsynthe-se), epileptiforme Krämpfe und Tremor bei Kleinkindern.

Skelettmuskulatur: Muskelatrophie und -schwäche. Krampus-Syndrom (anfalls­weise, sehr schmerzhafte Kontraktion von Muskelgruppen).

  • Immundepression, Thymusatrophie. Dermatitis (Pellagra-ähnlich, wie bei Ri­boflavin- u. Niacinmangel), Haarausfall.

  • Schleimhäute: Glossitis, Stomatitis Hypochrome, eisenrefraktäre Anämie: Vi­tamin B6 wird als Coenzym der 8-Ami-nolävulinsäure-Synthetase für den ersten Schritt der Hämsynthese benötigt. Erhöhte Homocyst(e)in-Plasmaspiegel (> 10 pmol/1)

Reduzierte Aktivität der Kynureninase und der erythrozytären Transaminasen Erhöhte renale Xanthurensäureexkretion und Hyperoxalurie

Tryptophan-Belastungstest: Renale Xan­thurensäureexkretion > 30 mg/24 h nach oraler L-Tryptophanbelastung (5 g bzw. 100 mg Tryptophan/kg KG) weist auf ei­nen latenten, ein Wert > 50 mg auf einen ausgeprägten Vitamin B6-Mangel hin.

Asthma

Bei Asthmatikern findet man zum Teil deutlich erniedrigte Vitamin B6-Spiegel (2). In einigen Untersuchungen führte die Vitamin B6-Gabe (2 X 50 mg pro Tag) zu einer Reduktion der Häufigkeit und Schwere der Asthmaanfalle. Bei der Therapie mit Theophyllin sollte auf eine ausreichende Vitamin B6-Versorgung geachtet werden, da Theophyllin die Pyridoxal-5-phosphat-Spiegel deutlich erniedrigt (3)(4). Die typischen Nebenwirkungen des Theophyllins, wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Übelkeit und Unruhe könnten mit einem Vitamin B6-Man-gel in Zusammenhang stehen.

Diabetes mellitus

Vitamin B6-Mangel kann sich beim Diabetiker durch eine Störung im Tryptophanstoff-wechsel, in Form einer gesteigerten Xanthurensäureausscheidung (komplexiert Zink!)

äußern (5). Vitamin B6 beugt der Entwicklung einer diabetischen Neuropathie vor, hemmt die Proteinglycosilierung und senkt erhöhte HbAlc-Werte. Empfohlen wird die tägliche Gabe von 50 bis 100 mg Vitamin Bals B-Komplex.

Depressive Verstimmungen

Bei Frauen, die östrogenhaltige Kontrazeptiva einnehmen, können depressive Verstimmungen durch eine Unterversorgung mit Vitamin B6 hervorgerufen werden (Tryptophan-stoffwechsel).

Primäre Hyperoxalurien vom Typ I

Primäre Hyperoxalurien vom Typ I (Calcium-oxalat-Nierensteine) beruhen auf einem Defekt der peroxisomalen Alanin-Glyoxylat-Aminotransferase, die Glyoxylat in Glycin transformiert. Dadurch wird vermehrt Glyoxylat gebildet, das zu Oxalsäure oxi-diert wird. Pyridoxalphosphat ist Cofaktor beim Abbau von Glyoxylat zu Glycin. Durch die hochdosierte Gabe von Pyridoxin (150 bis 1000 mg pro Tag) lässt sich die Oxalsäurebildung normalisieren und die Bildung von Nierensteinen verhindern (6).

Chinese-Restaurant-Syndrom, CRS

In der chinesischen Küche verwendet man häufig Glutamat als Aromazusatz. Empfindliche Menschen können nach einer Mahlzeit mit Kopfschmerzen, Nackensteife, Schwindel, Schweißausbrüchen, Übelkeit und Herzklopfen reagieren. Über Wechselwirkung mit dem Vitamin-B6-abhängigen Enzym Glutaminoxalacetat-Transaminase kann Pyridoxin die CRS-Symptomatik signifikant verbessern (7). Zur Prävention und Therapie werden 50-100 mg Pyridoxin pro Tag empfohlen.

Epilepsie, Vitamin B6-abhängige Krämpfe bei Neugeborenen und Säuglingen („Pyridoxine Dependency")

Bei Säuglingen und Kleinkindern kann ein Pyridoxinmangel Krämpfe und EEG-Veränderungen verursachen, die wahrscheinlich auf eine Störung im Neurotransmitterstoffwechsel des Gehirns zurückzuführen sind. Pyridoxalphosphat ist Coenzym der Ami-nosäuredecarboxylasen, die an der Umwandlung (Decarboxylierung) von Glutaminsäure zu GABA beteiligt sind (8)(9). Ein Vitamin B6-Mangel kann zu einer Abnahme der physiologischen Konzentrationen des inhibitorischen Neurotransmitters GABA im Zentralnervensystem führen und dadurch die Krampfschwelle erniedrigen. Die Anwendung von Vitamin B6 (50-100 mg i.v. bzw. 10-30 mg/kg KG/Tag p.o.) in der antiepileptischen Therapie hat grundsätzlich nur unter strenger ärztlicher Kontrolle zu erfolgen. In hoher Dosierung (80 bis 400 mg/Tag) kann Pyridoxin die Biotransformation von Phenytoin und Phenobarbital steigern und die Wirkspiegel der Antiepileptika signifikant senken (10).

Herz-Kreislauf-Erkrankungen (KHK, Angina pectoris, Homocyst(e)inämie)

Neben erhöhten Cholesterinspiegeln gehört ein erhöhter Homocysteinwert zu den Hauptrisikofaktoren bei der Entstehung der Arteriosklerose. Durch Substitution der Vitamine B6, B12 und Folsäure lassen sich erhöhte Ho-mocystein-Blutspiegel senken. Homocystein kondensiert in einer, durch das Vitamin B6-abhängige Enzym Cystathio-nin-ß-Synthase katalysierten Reaktion, mit Serin zu Cystathionin. Vitamin B6 soll zudem die Plättchenaggregation hemmen (siehe auch Kap. 8).

In einer randomisierten Placebo-kontrol-lierten Studie wurde der Einfluss einer hochdosierten Vitamin B6- und Folsäure-Substitu-tion auf den Homocyst(e)inspiegel und das kardiovaskuläre Risiko bei Personen mit familiärer Vorbelastung untersucht. Probanden waren gesunde Geschwister von Patienten mit vorzeitiger atherothrombotischer Erkrankung. Die Teilnehmer erhielten über einen Zeitraum von 2 Jahren täglich 5 mg Folsäure und 250 mg Vitamin B6. In der Verum-Grup-pe sanken die Homocyst(e)in-Plasmaspiegel signifikant von 14,7 auf 7,4 p.mol/1. Darüber hinaus erzielten die Probanden der Verum-Gruppe deutlich bessere Ergebnisse im EKG-Belastungstest, ein zusätzlicher Hinweis auf ein reduziertes kardiovaskuläres Risiko (11).

Homocystinurie

Durch eine verminderte Aktivität der Cysta-thionin-ß-Synthase kommt es zu einer Anstauung von Homocystein, das durch oxidati-ve Verknüpfung der SH-Gruppe mit einem weiteren Homocysteinmolekül Ho-mocystin bildet. Die pathologische Akkumulation von Homocystin im Blut und den Geweben verursacht schwere Endothelschä-den und führt zu Gefäßverschlüssen. Bei Homocystinurie wird Vitamin B6 in Dosierungen von 200 bis 1200 mg pro Tag empfohlen.

Immunsystem

Bei Pyridoxinmangel ist die Immunabwehr ge schwächt. Zur Stärkung des Immunsystems sollte daher bei Tumorerkrankungen und AIDS immer auf eine ausreichende Versorgung mit Vitamin B6 geachtet werden. Empfehlenswert ist die Substitution in Form eines B-Komplexes (50 bis 100 mg pro Tag).

Isoniazid-, Penicillamintherapie, Isoniazid-vergiftungen

Sowohl bei einer Therapie eines Morbus Wilson mit Penicillamin als auch einer tuberku-lostatischen Therapie mit Isoniazid (INH) (v. a. bei > 10 mg INH/kg/KG/Tag) sollte eine prophylaktische Einnahme von 100 mg Pyridoxin täglich erfolgen. Bei INH-Vergiftun-gen wird 1 g Pyridoxin-HCl i.v. als Bolus pro g Isoniazid (bzw. 5 g initial) gegeben.

Karpaltunnelsyndrom

Das Karpaltunnelsyndrom ist eine Nervenstörung infolge eines Druckschadens am Nervus medianus. Es äußert sich in örtlichen Schmerzen, die von der Hand bis in die

Schulter ausstrahlen können. Die Gabe von 100 bis 300 mg Pyridoxin pro Tag kann die Schmerzen vermindern.

Pyridoxin-responsive sideroblastische Anämie

Bei dieser seltenen Form einer hypochro-men Anämie liegt eine gestörte Erythropoe-se mit dem Auftreten von Ringsideroblasten im Knochenmarkausstrich und erhöhten Eisenwerten im Serum vor. Vitamin B6 ist Coenzym der 8-Amino-Laevulinsäure-Synthetase, die für den ersten Schritt der Hämsynthese benötigt wird und deren Aktivität bei der Py-ridoxin-responsiven sideroblastischen Anämie stark reduziert ist. Ein Pyridoxinmangel führt daher zu einer Störung der Hämoglobinsynthese und zu einer Akkumulation von nicht verwertbarem Eisen. Pyridoxin wird in einer Dosierung von 600 mg pro Tag eingesetzt. Sekundäre sideroblastische Anämien können unter der Therapie mit Tuberkulostatika (Isoniazid, INH) auftreten.

Prämenstruelles Syndrom (PMS)

Vitamin B6 übernimmt eine zentrale Rolle bei der Neurotransmittersynthese des ZNS. Über seinen Einfluss auf den Dopamin- und Serotoninstoftwechsel kann Vitamin B6 depressive Symptome, Stimmungsschwankungen, Unterleibsschmerzen, Ödeme sowie eine erhöhte Empfindlichkeit der Brüste signifikant verbessern. Die Wirksamkeit von Vitamin B6 bei PMS wird durch eine systematische Analyse der bisher zu diesem Thema publizierten und nicht publizierten, randomi-sierten und Plazebo-kontrollierten Studien (insgesamt 9 Studien mit 940 Patientinnen) bestätigt (12). Empfohlen wird eine tägliche Gabe von 50 bis 500 mg Pyridoxin (ab dem 10. Tag vor bis zum Einsetzen der Periode), am besten in Kombination mit Vitamin Bund Magnesium (siehe auch Kap. 14).

Schwangerschaftserbrechen, Kinetosen

Bei Schwangerschaftserbrechen (Hypereme-sis gravidarum) und Reiseübelkeit werden

150 bis 500 mg Pyridoxin pro Tag empfohlen. Die Wirksamkeit ist allerdings umstritten.

Weitere Anwendungsgebiete

Alkoholismus, Arthritis, Cystathioninurie, Lebererkrankungen, Osteoporose.

Nebenwirkungen

Dauerhafte Einnahme von sehr hohen Dosierungen (300 mg Pyridoxin und mehr) über Monate und Jahre können periphere sensorische Neuropathien verursachen, die allerdings nach Absetzen wieder abklingen.

Vitamin B6 kann schon in geringen Dosie­rungen (2 mg pro Tag) zu einem Wirkungs­verlust von L-Dopa führen. Als Coenzym der L-Aminosäuredecarboxylase beschleunigt Pyridoxalphosphat die periphere Decarboxy-lierung von Levodopa. Obwohl die Kombina­tion von L-DOPA mit einem Decarboxylase-Hemmer (z.B. Carbidopa) diese Interaktion reduziert, sollte Vitamin B6 nicht in pharma­kologischen Dosen eingenommen werden! Der Wirkspiegel von Phenytoin oder Pheno-barbital kann durch hohe Vitamin-B6-Dosen (80^100 mg) absinken. Über Komplexbil­dung mit Hydralazin und Dihydralazin kann Vitamin B6 den Plasmaspiegel der beiden Vasodilatatoren senken.

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